Wirtschaft CO2-Ausstoß
Die sieben Schwächen des deutschen Kohleausstiegs (WELT)
Das Kabinett Merkel legt sich fest: Deutschland steigt als
erstes und einziges Land aus Atomenergie und Kohleverstromung aus. Die Folgen
für das Klima sind überschaubar. Dafür sind die Risiken und Kosten enorm – auch
bei der Versorgungssicherheit.
Das Kohleausstiegsgesetz, das das
Bundeskabinett am Mittwoch beschlossen hat, verdient zu Recht das Attribut
„historisch“. Dass ein Staat in weniger als 20 Jahren fast die Hälfte seiner
Stromerzeugung aus freien Stücken abschalten will, hat es so auf der Welt noch
nicht gegeben.
Atom- und Kohlekraftwerke standen 2018 noch für 47 Prozent der deutschen
Bruttostromerzeugung. Das alles soll jetzt weg – und vieles davon recht bald.
Deutschland ist zwar nur für zwei Prozent der globalen CO2-Emissionen
verantwortlich – und für null Prozent des globalen CO2-Wachstums der
vergangenen Dekade. Dennoch soll mithilfe des Kohleausstiegs der gesamte
deutsche CO2-Ausstoß um ein Viertel gesenkt werden.
Anders als in vielen anderen Ländern soll dies ohne Hilfe der fast CO2-freien
Kernenergie gelingen, die ebenfalls abgeschaltet wird.
Ob das Vorhaben visionär, mutig, vorbildlich, riskant, tollkühn, wahnsinnig
oder schlicht notwendig ist, liegt im Auge des Betrachters: Bei der Bewertung
der Energiewende gehen die Meinungen auseinander.
Die Bundesregierung ist der Überzeugung, einen guten Kompromiss zwischen den
Erfordernissen des Klimaschutzes, der Wirtschaftlichkeit und der
Versorgungssicherheit gefunden zu haben. Dennoch sind die Schwächen und Risiken
des Kohleausstiegsplans erheblich.
1. Kein zusätzlicher Klimanutzen
Die schärfste Kritik am deutschen Kohleausstieg ist grundsätzlicher Natur:
Der deutsche Markteingriff ist aus klimapolitischer Sicht völlig unnötig. Der
Europäische Emissionshandel verteuert die Verstromung fossiler Energieträger
ohnehin. Die Menge der CO2-Berechtigungen sinkt Jahr für Jahr.
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Die von der neuen EU-Kommission
geplante Verschärfung des europäischen Klimaschutzziels auf bis zu 55 Prozent
CO2-Einsparung bis 2030 lässt erwarten, dass die Preise für die
Zertifikate noch stärker steigen und Kohlekraftwerke noch schneller aus dem
Markt gedrängt werden.
Eine ganze Reihe hochkarätiger
Ökonomen ist der Überzeugung, dass der nationale Eingriff in Deutschland keinen
Zusatznutzen erzeugt, der über das Wirken des EU-Instruments hinausginge.
2. Luftbuchungen beim Ersatz-Strom
Unklar ist, wie Deutschland künftig
seinen Strombedarf decken kann. Beobachter wie Michael Vassiliadis von der
Energie-Gewerkschaft IG BCE geben zu bedenken, dass in Deutschland nur noch vom
Abschalten geredet wird, nicht aber vom Einschalten.
Nach den Ergebnissen der
Regierungskommission „Wachstum, Strukturwandel, Beschäftigung“ (WSB- oder
Kohlekommission) soll Ökostrom, insbesondere aus Wind- und Solarkraft, die
Lücke füllen. Bis 2030 soll der Anteil erneuerbarer Energien von heute rund 43
Prozent auf 65 Prozent ausgebaut werden.
Ob dieses Ziel erreicht wird, ist
allerdings höchst fraglich. Der Bau neuer Windräder ist stark zurückgegangen.
Ob die nötigen Ausbauzahlen gegen die Widerstände von Naturschützern und
Anwohnern durchgesetzt werden können, ist offen. Denn erschwerend kommt hinzu,
dass in den kommenden Jahren viele Windräder das Ende der 20-jährigen
EEG-Förderung erreichen und vor dem Abbau stehen.
Die Leistung der Windkraft
droht deshalb nicht nur nicht zu wachsen, sondern sogar zu schrumpfen.
Fotovoltaik boomt zwar, doch fällt diese Stromquelle in der dunklen Jahreszeit
fast völlig aus.
Studien,
die eine Vollversorgung durch erneuerbare Energien behaupten, basieren fast
ausnahmslos auf der Annahme, den Strombedarf der Volkswirtschaft durch
Effizienzgewinne radikal senken zu können. Allerdings zeichnen sich
Effizienzsteigerungen in der nötigen Größenordnung noch immer nicht ab.
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Zugleich
steigt der Strombedarf vieler volkswirtschaftlicher Sektoren. Allein die
Umstellung der Stahlproduktion von Kokskohle auf das klimaneutrale
Reduktionsmittel Wasserstoff würde fast die gesamte heutige Ökostromproduktion
auffressen.
Hinzu
kommt die Umstellung des Luft-, Wasser- und Schwerlastverkehrs auf synthetische
Kraftstoffe, deren Herstellung bislang ebenfalls auf dem stromintensiven
Elektrolyseprozess beruht. Wie der nötige Ökostrom für die Elektrolyse
beschafft werden soll, ist unklar.
Im
Jahr 2018 betrug der Primärenergieverbrauch Deutschlands 13.000 Petajoule. Die
Windkraft lieferte jedoch nur 396 Petajoule, also gerade einmal drei Prozent.
Fotovoltaik spielte mit 165 Petajoule eine noch geringere Rolle. Der Plan, die
Energieversorgung der größten europäischen Volkswirtschaft fast ausschließlich
auf Wind- und Solarkraft aufzubauen, erscheint daher gewagt.
Auch der Braunkohle-Tagebau Garzweiler muss
schließen
Quelle: Getty Images/imageBROKER RF
Gaskraftwerke
dürften vorerst stärker ausgelastet werden, allerdings machen Umweltverbände
und Klimapolitiker inzwischen auch schon gegen die Nutzung von Erdgas mobil. Ob
die Versorgung durch Importe aus dem Ausland gedeckt werden kann, ist wegen der
dort ebenfalls sinkenden Kapazitäten offen. Das Vorhaben, Kohle- und
Atomkraftwerke abzuschalten, bevor der Ersatz gesichert ist, gleicht einem
Flugzeug, das abhebt, obwohl noch keine Landebahn existiert.
3. Fehlende Vorbildfunktion
Der
Kohleausstieg hat global nur geringe direkte Effekte aufs Klima. Deshalb wird
die beschleunigte CO2-Minderung eher mit der internationalen
Vorbildfunktion begründet. Wenn ein führendes Industrieland beweist, dass eine
Versorgung ohne Kohle- und Atomstrom möglich ist, soll das Nachahmer ermuntern.
Allerdings
halten nach einer Umfrage des Weltenergierats nur elf Prozent der befragten
Experten in Europa die deutsche Energiewende für ein Vorbild, mehr als 50
Prozent tun dies ausdrücklich nicht. Insbesondere die hohen Kosten von
geschätzt 50 Milliarden Euro für den Kohleausstieg, die zusätzlich zu den
Ökostrom-Beihilfen von jährlich rund 25 Milliarden Euro anfallen, dürften kaum
Nachahmer ermuntern.
Hinzu
kommen die höchsten Strompreise
Europas und erhebliche Unsicherheiten für industrielle Planungen.
4. Rechtliche Unsicherheiten
Der
Ausstieg aus der Steinkohleverstromung soll ab 2026 entschädigungslos erfolgen.
Das Bundeswirtschaftsministerium macht geltend, den Kraftwerksbetreibern
genügend Vorlauf gegeben zu haben, sodass eine Kompensation für entgangene
Gewinne oder gestrandete Investitionen nicht mehr gezahlt werden müsse.
Insbesondere
börsennotierte Kraftwerksbetreiber dürften allerdings dagegen klagen.
Steinkohlekraftwerke werden insbesondere von Stadtwerken
betrieben, die für die kommunalen Finanzen wichtig sind. Durch die weitgehend
entschädigungslose Abschaltung der Anlagen drohen hoher Abschreibungsbedarf und
entsprechende Belastungen für kommunale Haushalte.
5. Belastung für die Industrie
Das
Kohleausstiegsgesetz weicht von den Empfehlungen der WSB-Kommission aus dem
vergangenen Jahr ab: Die Wirtschaft kann jetzt nicht mehr fest mit einer
Kompensation für etwaige Strompreiserhöhungen rechnen. Das Gesetz formuliert
hier nur eine Kann-Bestimmung, die, wenn überhaupt, auch erst in einigen Jahren
umgesetzt werden soll.
Für
die Industrie, die im internationalen Wettbewerb steht, ergeben sich daraus ab
sofort Planungsunsicherheiten, die Investitionsentscheidungen blockieren. In
energieintensiven Industrien werden bereits Berechnungen über
Betriebsverlagerungen angestellt, weil nicht nur Elektrizität, sondern auch der
Energieträger
Wasserstoff in sonnen- und windreichen Flächenstaaten billiger produziert
werden kann, als in Deutschland.
6. Versorgungssicherheit unklar
Anders
als von der Kohlekommission vorgeschlagen, soll jetzt bereits im Jahr 2022
überprüft werden, ob der Atomausstieg und die Abschaltung der ersten
Kohleblöcke die Versorgungssicherheit gefährden. Allerdings ist diese nicht
definiert.
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Theoretisch lässt sich die
Stromversorgung Deutschlands auch durch große Importmengen darstellen. Auch
könnte eine temporäre Abschaltung industrieller Stromverbraucher als Beitrag
zur Sicherung der Stromversorgung interpretiert werden. Die Frage, was als
sichere Versorgung zählt, ist politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich
noch nicht diskutiert.
Der Energieverband BDEW warnt auch
vor Auswirkungen des Steinkohleausstiegs für die kommunale Wärmeversorgung, da
viele Kraftwerke bislang Prozesswärme in Fernwärmenetze einspeisen. Dass
überall rechtzeitig die Umrüstung auf den Brennstoff Erdgas gelingt, wird bezweifelt.
7. Keine gesellschaftliche Befriedung
Das Kohleausstiegsgesetz folgt in
seinen Eckdaten recht genau den Vorgaben der WSB-Kommission aus dem vergangenen
Jahr. Schon 2022 sollen nur noch je 15 Gigawatt Stein- und Braunkohlekapazität
übrig sein, im Jahre 2030 nur noch acht bis neun Gigawatt. Allerdings hatte die
Kohleausstiegskommission viele Streitpunkte nicht gelöst, sondern durch
interpretationsfähige Formulierungen offengelassen.
So wird die Empfehlung, die
Kohlekraft „möglichst stetig“ außer Betrieb zu nehmen, von Klimaschützern heute
als unverhandelbarer Imperativ behandelt. Die Tatsache, dass die Mehrzahl der
Braunkohlekraftwerke erst nach 2028 stillgelegt werden soll, wird von ihnen
entsprechend als Bruch des gesellschaftlichen Kohlekompromisses interpretiert.
Auch galt für das bereits gebaute,
aber noch nicht ans Netz angeschlossene Steinkohlekraftwerk Datteln 4 die ungenaue Empfehlung der
Kohlekommission, eine Einigung mit dem Betreiber Uniper anzustreben. Umweltpolitiker
und -verbände interpretieren die Formulierung heute jedoch so, als hätte die
Kohlekommission praktisch ein Verbot der Inbetriebnahme empfohlen.
Die Bundesregierung hat jedoch entschieden, das hochmoderne Kraftwerk in
Betrieb zu nehmen, weil auf den Steuerzahler sonst rund eine Milliarde Euro
Kompensationsforderungen zukommen würden. Die Emissionen des Kraftwerks sollen
durch die Stilllegung älterer Meiler ausgeglichen werden. Dessen ungeachtet
soll das „Symbol“ Datteln 4 künftig im Zentrum neuer Klimaproteste stehen. Eine
gesellschaftliche Befriedung durch den Kohleausstieg scheint es daher erst
einmal nicht zu geben.
https://www.welt.de/wirtschaft/article205451993/Energiewende-Die-Schwaechen-des-Kohleausstiegsgesetzes.html
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