Samstag, 28. September 2019

Offener Brief an Greta Thunberg

Martin Graf nachdenklich.
Liebe Greta Thunberg,
Hut ab – mit Deinem Auftritt vor der UNO hast Du vor wenigen Tagen ein gewaltiges Presseecho bekommen. „Ihr habt mit Euren leeren Worten meine Träume und meine Kindheit geklaut“ hast Du dort unter anderem gerufen. Und hinterhergeschickt: „Wir werden euch niemals verzeihen!“ 
Sorry, aber das ist großer Blödsinn. Und diejenigen, die Dir Deine Manuskripte schreiben und mit Dir Deine Auftritte üben, wissen das: Niemand hat Dir jemals irgendetwas geklaut. Du hattest eine glückliche, unbeschwerte Kindheit in einem der sichersten und saubersten Länder der Erde. Du konntest träumen, wovon Du wolltest. Du hattest das Glück, nie erfahren zu müssen, was Hunger, Leid, Krankheit und Tod ist. Du gehörst zu den jungen Menschen, die von ihrer Vorgänger-Generation so viel geschenkt bekommen hat und so verwöhnt worden ist wie noch keine zuvor. Der Klimawandel hatte nicht den geringsten Einfluss auf Dein Leben. „Gestohlene Träume“ oder eine „geraubte Kindheit“ sind Sprechblasen, die die Presse liebt – aber wenn man etwas genauer hinsieht, sind sie genauso hohl und inhaltsleer wie die von den Leuten, die Du angreifst. Und sie werden durch Wiederholungen nicht besser.
Ihr seid jung und ungestüm; Ihr habt das Recht, andere zu kritisieren und mal über ein Ziel hinausschießen. Du hast auch zweifellos etwas angestoßen: Bei Deiner Generation, die jetzt wenigstens zeitweise mal vom Handy aufschaut und feststellt: Da gibt es ja noch was anderes außer mir. Aus dieser Bewegung könntet Ihr jetzt etwas machen – wenn Ihr wollt.
Aber vieles von dem, was Ihr derzeit tut – und Du in der ersten Reihe – ist vor allem respektlos: Die Fehler Einzelner lastet Ihr pauschal Milliarden von Menschen an und verurteilt einfach alles als schlecht, was andere vor Euch gemacht haben – noch bevor Ihr selbst bewiesen habt, dass Ihr irgendwas davon besser könnt. Damit müsst Ihr nicht warten, bis Ihr erwachsen und Ingenieure oder Politiker seid: Bäume pflanzen, Wälder und Küsten entmüllen, mit dem Fahrrad in die Schule fahren und verantwortungsvoll konsumieren könnt Ihr schon heute! Jammern und fordern und andere beschimpfen verbessert nämlich nicht das Geringste – wann fangt Ihr an, SELBST etwas zu TUN?
Du hast das Privileg, eine Schule Deiner Wahl besuchen und jeden Beruf ergreifen zu dürfen, der Deinen besonderen Fähigkeiten entspricht – und Du wirfst dieses Geschenk, um das Dich mindestens eine Milliarde junger Menschen in aller Welt beneiden, einfach weg? Wie und wovon willst Du leben in jener - angeblich – besseren Welt, die Du Dir erträumst? Willst Du sie nur serviert kriegen oder wirst Du auch selbst etwas dafür tun?
In unserer Kindheit und Jugend – nach einem schrecklichen Krieg und dem anschließenden Wiederaufbau – spielte Klima- und Umweltschutz noch keine große Rolle. Aber seit den 70er Jahren wurde seine Wichtigkeit erkannt und umgesetzt: Von -zig Millionen von Menschen in aller Welt (die meisten von ihnen waren nicht so privilegiert wie Du), die Du jetzt einfach pauschal verurteilst und der Untätigkeit oder gar der vorsätzlichen Schädigung der Umwelt beschuldigst. Die Medien freuen sich darüber - aber es ist einfach respektlos.
Du und Deine Generation habt noch nicht wirklich etwas für Klima- und Umweltschutz geleistet; nur davon profitiert. Das müsst Ihr auch nicht; Ihr seid noch jung, und wie Ihr Eure Zukunft gestaltet, wenn Ihr demnächst mehr dafür tun müsst als die Schule zu schwänzen und ein paar Transparente zu schwenken, wird man sehen. Ich werde es aufmerksam beobachten.
Ich habe zwei Kinder ins Leben begleitet und viel für den Umweltschutz und die Zukunft getan – als ich eine hatte. Heute lebe ich in meiner ehemaligen Zukunft (der Gegenwart) und freue mich über das gemeinsam mit vielen anderen Menschen Erreichte. Deshalb ein Rat von einem „alten weißen Mann“: Hol‘ Dir Deine Kindheit und Jugend zurück. Jetzt. Geh‘ wieder zur Schule, mach‘ einen Abschluss, reise (mit welchem Verkehrsmittel auch immer; dafür sind sie da) durch die Welt, sei neugierig, verbring‘ viel Zeit mit Freunden, verliebe Dich, sei unvernünftig, beginne ein Studium und werde irgendwann die weltbeste Umwelt-Ingenieurin, wenn es tatsächlich Dein Traum ist, etwas zu verändern und nicht nur darüber zu reden.
Denn von allem anderen bleibt höchstens heiße Luft - und selbst die wird kalt. Es wäre schade, wenn die Welt sich irgendwann nur an das Mädchen aus Schweden erinnern würde, das zwar ein paar Monate oder Jahre lang viel gesagt und gefordert, aber am Ende nichts aus seinem Leben gemacht hat.

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