Mittwoch, 18. September 2019

Der Moralismus unserer Tage nervt gewaltig...


Köstlich!
Der Moralismus unserer Tage nervt gewaltig und bringt auch noch furchtbaren Kitsch hervor
Wenn es um den Erhalt des Planeten geht, kennt das Gutgemeinte keine Grenzen mehr. Aber manchmal steckt das Böse im vermeintlich Guten.

Norbert Gstrein 18.9.2019, in der NZZ

Er ist erst dreizehn, ein Kind, doch ich habe Angst vor ihm. Er ist ein Freund meiner Tochter, und ich kann ihm nicht gut den Zutritt zum Haus verwehren, aber abgesehen davon, dass auch sie jetzt richtige Panikattacken bekommt, wenn er angekündigt ist, schaue ich jedes Mal, dass ich zeitig das Weite suche und ihm nicht ausgeliefert bin. Denn er erscheint immer mit einer Agenda, die er dann, durch nichts zu bremsen, in quälenden Monologen abarbeitet.

Acht Wochen lang waren es die Plastikhalme, sechs Wochen die Überfischung der Meere, davor die Bienen, seither ist es die auf seinem Fairphone angezeigte Luftqualität in unserer Stadt, die er am liebsten von Sekunde zu Sekunde ausposaunen würde. Er war bei allen Klimademonstrationen und fragt mich jedes Mal, welche Energiewerte unser Kühlschrank habe, wie wir im Winter heizten und ob ich nicht endlich mein Auto verkaufen oder noch besser verschrotten lassen wolle, obwohl er zu seinen Bassgeigenstunden, seinem therapeutischen Schwimmen und seiner Logopädie selbstverständlich gefahren wird.


Einmal habe ich ihn dabei ertappt, wie er in unserem Mülleimer herumgewühlt, ein Marmeladeglas herausgefischt und es zuerst seiner Mutter triumphierend und dann uns vorwurfsvoll präsentiert hat. Ich habe mich zurückgehalten, ihn nicht ein kleines Arschloch zu nennen, aber ich habe das in dem Augenblick ganz intensiv gedacht und mir Mühe gegeben, ihn für seine Klugheit und Umsicht mit meinem sanftesten Lächeln zu belohnen, das eine Wolfsgrimasse war. Dann hat er mit seiner Automatenstimme gesagt, man werfe kein Glas in den Müll, und ich habe mich bei ihm bedankt und mir freudig ausgemalt, wie ich ihm im ersten unbeobachteten Augenblick einen kräftigen Tritt versetzen würde.

Das Klischee übertrifft die Wirklichkeit

Er hat einen Aufnahmeantrag bei Greenpeace gestellt, wo ihm beschieden worden ist, dass er zu jung dafür sei, aber dass seinem Wunsch bei frühester Gelegenheit stattgegeben werde, und fliegt dreimal im Jahr nach Amerika zu seinem Vater, der offenbar klug genug gewesen ist, sich dorthin abzusetzen. Er ist hochbegabt, versteht sich, und hat eine Lese-, Rechen- und ein halbes Dutzend anderer Schwächen und natürlich für sie alle und noch für viele andere mehr einen sogenannten Nachteilsausgleich in der Schule, der ihm zum ewigen Vorteil gereichen möge, denn solche Leute braucht das Land.

Das hört sich alles nach einem ziemlichen Klischee an, aber es kommt noch viel schlimmer, weil sich die Wirklichkeit nicht kümmert, sobald es um Klischees geht, und immer noch eins draufsetzt, wenn das Schlimme schon das Schlimmste übertroffen hat. Denn seine Mutter ist Künstlerin, eine von denen, die sich auch so nennen und nichts dagegen haben, wenn sie Kreative genannt werden, und die Kunst für eine Unterabteilung der Sozialpädagogik und des Therapeutischen halten.

Sie malt, zeichnet, töpfert und dichtet für das Gute in der Welt und ist immer auf die eine oder andere Weise inspiriert oder illuminiert, wenn sie sich nicht gerade mit einem Wehwehchen bei irgendwelchen Ärzten aufhält. Die Liste dessen, was sie bei sich festgestellt hat, ist lang, übertroffen nur durch die noch viel längere Liste aller Auffälligkeiten, die sie bei ihrem kleinen Genie hat feststellen lassen.

Ich weiss nicht, ob ein Bein von ihm zu kurz ist oder das andere zu lang, ich weiß nicht, ob er schielt oder kurz- oder weitsichtig ist oder überhaupt blind, ob er taktile Störungen hat oder in jungen Jahren schon zu Depressionen neigt, was mich nicht wundern würde, aber er hat für alles Atteste, die seine Mutter wahlweise vorlegen kann, um ihm, je nachdem, irgendwo Zutritt zu verschaffen oder woanders seine Abwesenheit zu entschuldigen.

Er ist von frühester Kindheit an darauf trainiert, seine Schwächen als Stärke einzusetzen, und weiß in jeder Situation genau, dass ihm jemand beispringen wird, wenn er nur laut genug schreit, und dass er dann mit seiner Vielzahl von Nachteilen in hundert von hundert Fällen darauf vertrauen kann, dass er schon zu seinem Vorteil kommt.

Viel mehr gäbe es dazu auch nicht zu sagen, hätte er nicht unlängst bei einem Abendessen dem Ganzen die Krone aufgesetzt und hätte ihn seine Mutter dabei nicht so selig angelächelt, dass ich Serviette und Besteck auf den Tisch gelegt habe, aufgestanden und so lange um den Block gegangen bin, bis meine Wut verraucht war.

Dummheit ist nicht nur dumm

Es war eines dieser wohlfeilen politischen Gespräche gewesen, bei denen man sich gegenseitig versichert, auf welcher Seite man steht, und obwohl Trump als Lackmustest längst nichts mehr taugt, war es zuletzt doch einmal mehr um ihn gegangen, und alle hatten ausgiebig Gelegenheit gehabt, ihren Abscheu und ihren Ekel kundzutun und sich an allerlei anderen Tautologien das Hirn bis zur Unbrauchbarkeit matschig zu reden.

Dann war es eine Weile still gewesen, und in die Stille hinein fragte das kleine Genie, warum ihn eigentlich niemand umbringe. Jetzt richteten sich die Augen auf ihn, und er sagte, es seien in der Geschichte doch schon so viele amerikanische Präsidenten umgebracht worden, warum also niemand den Ernst der Lage erkenne, seinen Mut zusammennehme und Trump umbringe.

Ich dachte wieder nichts Vorteilhaftes von ihm, und für mich wäre es damit auch getan gewesen, aber in derselben Sekunde sah ich den auf ihn konzentrierten Blick seiner Mutter, und ich schwöre, ich habe nie eine grössere Seligkeit und nie ein grösseres Glück gesehen, einen solchen Bastard auf die Welt gebracht zu haben.

Draussen machte ich mir schnell ein paar Notizen, die ich später kaum mehr zu entziffern vermochte. Ich wollte irgendwann einen Aufsatz darüber schreiben, ob das Gute nicht besonders böse sein konnte, ob dumm sein nicht nur dumm, sondern vielleicht auch böse war und ob nicht womöglich das Böseste im Kitsch des Guten steckte, aber zunächst war ich nur damit beschäftigt, mich zu beruhigen und nicht zurück hineinzugehen und das kleine Genie zur Rede zu stellen.

Er war erst dreizehn, ein Kind, ja, doch ich hatte Angst vor ihm und hoffte, dass er in zehn oder zwanzig Jahren immer noch so genau wusste, wen er umbringen wollte, wenn er schon so früh damit anfing, und dass er seine Allmachtsphantasien am Ende nicht vielleicht grosszügiger auslegte, wenn er endlich der Revolutionär wäre, den seine Mutter so sehnlich herbeiwünschte, selbstverständlich ohne jedes Risiko für ihn.

Bei einem anderen Abendessen, nur wenige Wochen davor, hatte sie erzählt, sie habe von Obama geträumt, und obwohl ich natürlich weiss, dass niemand etwas für seine Träume kann, verhält es sich mit dem Erzählen anders. Man musste so etwas ja nicht gleich in die Welt setzen, aber kaum hatte sie das gesagt, sagte sie auch noch, sie hätten sich gegenseitig Mut machende Worte zugesprochen, sie und Obama, und für mich war das wieder einmal einer der Augenblicke, in denen mir ein Leben auf einem anderen Planeten als einziger Ausweg erschien.

Wenn es wenigstens ein feuchter Traum gewesen wäre und sie Sex mit Obama gehabt hätte, aber nicht diese verlogene Selbstgerechtigkeit! Zwar schaute die Tischrunde zuerst betreten zu Boden, doch dann waren sich schnell alle einig, dass es etwas Gutes sei, von der Demokratie und vor allem für die Demokratie zu träumen, und dass nicht nur das Träumen von der Demokratie, sondern auch die Demokratie selbst und das Gute etwas Gutes seien.

Wieder alles richtig gemacht

Ich sah sie einen nach dem anderen an, eigentlich besonnene Leute, die sich aber verhielten wie Kindergartenkinder im Stuhlkreis, und stellte mit Schrecken fest, dass sie Obama sträflich unterschätzten und wirklich glaubten, dass er nichts lieber täte, als mit ihnen zusammenzusitzen und zu überlegen, ob sie gleich alle in die Sandkiste wollten oder vorher am besten noch ein paar schöne Lieder singen.

Im nächsten Augenblick musste ich an die Fotos denken, auf denen man ihn im sogenannten Situation Room im Weissen Haus mit Hillary Clinton, Joe Biden und anderen Mitgliedern seines Sicherheitsteams sieht, wie sie das Kommandounternehmen verfolgen, das zur Ausschaltung von Usama bin Ladin führen sollte, und so gespenstisch diese Zusammenkunft sein mochte, schauten sie doch bei der vermutlich gezielten Tötung eines anderen Menschen zu, hatte es etwas extrem Beruhigendes, auf diesem Bild Erwachsene zu sehen und nicht Kinder.

Das kleine Genie sass dabei und sah seine Mutter an, während sie ihren Traum erzählte. Er war schon ganz unruhig und konnte es kaum erwarten, selbst zum Zug zu kommen, und als es endlich so weit war, sagte er, dass er Obama liebe und schon immer geliebt habe. Wieder das Strahlen seiner Mutter, wieder zwölf Punkte von zwölf möglichen, wieder den Ball mitten ins leere Tor gedroschen, wieder alles richtig gemacht.

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